Disruptive Innovation ist eines der Schlagworte, mit denen einerseits Ängste geschürt werden und andererseits provokativ auf den Zwang zur Modernisierung hingewiesen wird. Häufig wird auch einfach nur von Disruption gesprochen. Doch nur die wenigsten Innovationen sind disruptiv. Eine disruptive Innovation bezeichnet nämlich streng genommen eine zerstörende Neuerung, die üblicherweise ganze Branchen gefährdet. So hat irgendwann das Automobil die Pferdekutschen ersetzt oder das Mobiltelefon die früher überall anzutreffenden Telefonzellen verdrängt.

Schaut man sich die Lebensmittelbranche an, gibt es sehr viele Innovationen. Allerdings sind davon nur die wenigsten disruptiv. Und selbst dann, wenn man in Richtung der Startups schaut, finden sich nur sehr wenige Ansätze, die das Zeug zu einer wirklich disruptiven Innovation haben. Und nur, weil das Potenzial theoretisch da ist, heißt das noch lange nicht, dass der Markt die Möglichkeiten aufnimmt. Das meiste, was auf Fachveranstaltungen angeführt wird, ist häufig innovativ, aber eben nur sehr selten eine disruptive Innovation.

Aber es muss ja auch nicht immer eine disruptive Innovation sein. Auch inkrementelle Innovationen, also Neuerungen, die in kleinen Schritten ablaufen, sind wichtig und für die Lebensmittelbranche typisch. Das hängt u.a. auch daran, dass der Großteil der Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette aus kleineren Unternehmen und Mittelständlern besteht. Diese investieren typischerweise nicht so stark in Innovationsaktivitäten, wie große Unternehmen. Dennoch schaffen Sie Innovationen.

Viele Innovationen der Lebesmittelbranche betreffen bereits die ersten Produktionsstufen der Vorverarbeitung sowie der landwirtschaftlichen Urproduktion. Angefangen bei der technologischen Erzeugung von widerstandsfähigem Saatgut und modernen Düngemitteln  (Ja, das kann man kontrovers diskutieren!) und dafür geeigneten Applikationsverfahren (Precision Farming) bis hin zu autonomen Landmaschinen und digitalisierten Produktions- und Monitoringprozessen (Digital Farming) gibt es viele Neuerungen, die in den letzten Jahrzehnten die Branche verändert haben. Allerdings ist der Landwirt nach, wie vor existent und, um es mit einer Formulierung eines Redners auf der Konferenz Farm & Food 4.0 auszudrücken: „Der Weizen wächst weiter auf dem Acker.“ Allerdings ist genau das ein Feld, wo wir in Zukunft möglicherweise durch moderne Produktionsmethoden, wie beim Vertical Farming, größere Änderungen sehen werden. Aber auch hier wird es wohl eher inkrementelle Entwicklungen geben und sowohl die Landwirtschaft wie man sie bisher kennt als auch die urbane Landwirtschaft werden gegenseitig voneinander profitieren. Disruption? Wir werden es sehen.

In der verarbeitenden Lebensmittelproduktion finden sich ebenfalls weitgehend inkrementelle Innovationen. So werden die Rezepturen weiterentwickelt, aber nur selten verschwinden Produkte zugunsten eines neue Produktes vollständig vom Markt. Stattdessen herrscht, jedenfalls in Deutschland, eine große Produktvielfalt, sodass mehr oder weniger gleiche Produkte an unterschiedliche Zielgruppen verkauft werden. Dafür gibt es eine Menge Prozessinnovationen, vor allem im Zusammenhang mit der automatisierten Herstellung. Denn viele Verfahren, die per Hand recht unspektakulär sind, erfordern sehr viel Ingenieurskunst, um von einer Maschine verrichtet zu werden. Disruption? Erst auf den zweiten Blick, wenn man an die derzeitige Entwicklung von Produkten denkt, die anstelle von Fleisch, Fisch und Geflügel auf Eiweiß aus Insekten setzen. Auch wenn es für uns etwas ungewohnt erscheint, wird das in Zukunft sicherlich eine entscheidende Rolle spielen.

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Innovationen im Handel gibt es ebenfalls reichlich. Insbesondere dann, wenn man auf Produktinformationen, die Lieferketten den zunehmenden Onlinehandel denkt. Aber auch bei einem sehr starken Wachstum im Onlinehandel, wird der stationäre Einzelhandel noch sehr lange erhalten bleiben. Aber er wird sich sicherlich wandeln müssen. Und er muss nach rechts und links schauen und darf sich bei der Entwicklung von Zukunftsvisionen nicht nur vom Silicon Valley und aktuellen Onlineriesen ablenken lassen. Die größte digitale Gefahr für den stationären Lebensmitteleinzelhandel ist sicherlich nicht Amazon, sondern eher Projekte, wie z.B. INS.world oder FOODcoin, die auf Blockchain-Technologie setzen und derzeit in Deutschland noch gar nicht sichtbar sind. Disruption? Das Potenzial ist da. Ob die Kunden so etwas annehmen, wird sich allerdings zeigen müssen.

Und was ist mit dem Innovationspotenzial der Startups? Das ist definitiv vorhanden. Viele Geschäftsmodelle befassen sich mit Lieferdiensten oder mit besonders hochwertigen oder auf eine bestimmte Zielgruppe optimierten Produktne. Das erlaubt in der Regel ein solides Wachstum und ist somit nicht nur für die Gründer, sondern auch für den Handel und die Konkurrenz interessant. Insbesondere die Kundenorientierung und die Online-Affinität ist etwas, wovon die etablierten Unternehmen lernen können. Startups und bestehende Unternehmen sollten demnach mehr zusammenarbeiten. Das ist auch eine der zentralen Aussagen, die z.B. von Dr. Florian Heinemann, auf der LZ OPEN 2018 mehrfach wiederholt wurde.

Interessant, aber nicht disruptiv, sind Lösungen, die der Nachverfolgbarkeit der Lebensmittel vom Saatgut bis zum Handel dienen. Derzeit arbeiten owohl Startups als auch etablierte Unternehmen an Lösungen auf der Basis von Blockchain-Technologie und versprechen sich viel davon. Und damit haben sie recht. Es besteht nicht nur die Chance auf mehr Transparenz, sondern insbesondere auch auf eine verbesserte Lebensmittelsicherheit. Allerdings wird damit kein bestehendes System wirklich zerstört, da es diese Informationskette im Grunde bereits gibt, nur eben auf der Basis anderer Technologien.

Disruptive Innovationen sind zwar schön, um plakativ neue Geschäftsmodelle zu bewerben oder Beratungsleistungen zu verkaufen, in der Lebensmittelbranche sind inkrementelle Innovationen letztlich aber die wichtigeren. Einerseits liegt das, wie beschrieben, an den Unternehmen des Marktes und andererseits sind auch die Kunden nicht unbedingt gewillt, von heute auf morgen ihre kompletten Ernährungsgewohnheiten oder eben ihre Produktionsverfahren und -philosophien umzustellen. Das wäre nämlich eine der möglichen Konsequenzen einer disruptiven Innovation in der Lebensmittelbranche.