„Wir haben den Knall gehört, man muss etwas tun in der Digitalisierung. Aber der Weizen wächst weiter auf dem Acker und nicht in der Cloud.“ Mit diesem Satz schloss Herr Kempkes von der RWZ eG am Ende einer Podiumsdiskussion, die im Rahmen der Farm & Food 4.0 im Januar dieses Jahres unter der Überschrift „Handel im Wandel“ Digitalisierung des Handelsprozesses im Agrarbereich stattfand. An der Podiumsdiskussion nahmen die Köpfe der führenden Agrarhändler Deutschlands sowie ein Vertreter von Amazon teil. Die Diskussionsrunde selbst beinhaltete ein buntes Potpourri bekannter Problemstellungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung. Diese waren weitgehend so allgemein, dass man das gesagte auch auf einer Konferenz zum Thema Tiefbau oder einer Podiumsdiskussion zur Digitalisierung einer Großbank hätte platzieren können. Der Inhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir haben erkannt, dass wir etwas tun müssen, versuchen das auch, wissen aber eigentlich nicht so richtig, was wir überhaupt tun müssen – vieles wollen wir aber auch einfach nicht ändern. Herr Kempkes zementierte mit seiner Aussage diese Haltung – jedenfalls scheinbar.

Der Wandel von statischen Wertschöpfungsketten hin zu dynamischen Wertschöpfungsnetzwerken insbesondere infolge neuer, digitaler Geschäftsmodelle und Handelsweisen wird auch die agrarische Wertschöpfungskette erheblich beeinflussen. Die Agrarhändler haben daher in den kommenden Jahren einen Berg Arbeit vor sich, wie ihn nur wenige andere bewältigen müssen. Insbesondere die Rolle als Handelspartner wird sich voraussichtlich ändern. Wenn sich am Markt nur ein Bruchteil dessen, was derzeit technisch entwickelt wird, etablieren sollte, werden die klassischen Agrarhändler als Mittler zwischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Handelsstrukturen schlicht und einfach nicht mehr benötigt. Dann bleibt dem Agrarhandel noch die Rolle als Lieferant von Betriebsmitteln, wie z.B. Futtermitteln, Saatgut, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln sowie landwirtschaftlicher Technik. Doch auch hier wächst das Risiko, dass neue Marktteilnehmer den Agrarhändlern gefährlich werden. Zwar wurde im Rahmen der Podiumsdiskussion erörtert, dass die Landwirtschaft das Vertrauen und die Expertise beim Bezug von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln benötigen. Das ist ein gewichtiges Argument. Aber auch dabei muss man den Preisdruck in der Landwirtschaft berücksichtigen und sich der Realität stellen, dass am Ende des Tages der das Geschäft macht, der den besten Preis anbieten kann oder aber einen Vorteil bei der Bestellabwicklung oder Lieferung bietet. Und damit wird die Brücke zu Amazon gebaut.

Der Vertreter von Amazon verhielt sich im Verlauf der Diskussion zurückhaltend und noch ist Amazon bei weitem kein Lieferant für landwirtschaftliche Betriebsmittel. Dennoch sind NPK-Dünger, Legemehl und Mais in Säcken zu jeweils 25 kg bereits heute bei Amazon verfügbar. Kälber- und Milchviehfutter sind auch in größeren Säcken lieferbar.

Nun sind sich die Agrarhändler ihrer Situation durchaus bewusst. Daher gibt es auch Ansätze, sich dem Thema Digitalisierung verstärkt zu widmen. Diese reichen von der Digitalisierung der Bestellannahme bis hin zu eigenen Zentren, in denen man sich dem Thema Digitalisierung widmet. Allerdings wurden die bisherigen Ergebnisse im Rahmen der Podiumsdiskussion verhalten angesprochen. Beispielsweise wurde das Thema Bestellannahme über ein Webportal/Webshop als nicht zielführend bewertet, da die Kunden es nicht annehmen. Die Schlussfolgerung lautete, dass die Kunden wohl weiter die konventionellen Kanäle nutzen wollen. Es gibt dabei jedoch noch eine andere Perspektive: Möglicherweise war und ist die Benutzerführung einfach zu kompliziert oder nicht zielgruppengerecht gestaltet. Eventuell wurden bestimmte Informationen oder Funktionalitäten nicht implementiert, wie z.B. Preisstaffeln oder Produktbeschreibungen. Oder aber das ganze wurde schlicht und einfach nicht ausreichend beworben.

Die geschilderten und vermeintlich nicht fruchtenden Ansätze offenbarten allerdings auch, dass man sich aktuell noch darauf beschränkt, das Geschäft mit seinen derzeitigen Prozessen zu digitalisieren. Das ist prinzipiell kein Fehler, aber greift dennoch viel zu kurz. Dem Kunden ist es egal, wie interne Prozesse eines Unternehmens aussehen. Und über lange Jahre eingefahrene Gewohnheiten, beispielsweise beim Bestellprozess, werden nicht einfach über Nacht abgelegt. Schon gar nicht, wenn der Kunde dadurch keinen Vorteil hat.

Hilfreicher wäre es vermutlich, wenn sich der Agrarhandel auf die durch seine Struktur gegebenen Stärken konzentrieren und sich mit dem Kundennutzen auseinandersetzen würde. Und darin schlummert ein unglaubliches Potenzial! Der Agrarhandel geht in weiten Teilen auf genossenschaftliche Strukturen zurück. Zwar werden die Einkaufs- und Vertriebsvorteile sowie die Finanzierungsdienstleistungen der Genossenschaften höchstwahrscheinlich durch neue Technologie abgelöst (z.B. Blockchain-basierte Smart Contracts, die Handelsgeschäfte poolen und die Finanzierung der Produktion von Erzeugnissen regeln), aber ihr Netzwerk innerhalb des Agrarsektors kann instrumentalisiert werden. Denn der genossenschaftliche Gedanke ist im Grunde ein ganz wesentliches Element, das für die durch die Digitalisierung getriebene Veränderung der statischen Wertschöpfungsketten hin zu dynamischen Wertschöpfungsnetzwerken eine große Bedeutung besitzt. In Wertschöpfungsnetzwerken ändern sich die Wertschöpfungsstufen für die Betriebe und auch die benötigten oder bereitgestellten Ressourcen sind nicht mehr gleichbleibend. Dafür müssen die Betriebe aber Eigeninitiative ergreifen und sich gegenseitig unterstützen. Im Grunde entspricht das dem genossenschaftlichen Gedanken, der auf Prinzipien, wie Selbstverwaltung, Selbstverantwortung und Mitgliederförderung beruht.

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Die Agrarhändler genießen in der Landwirtschaft ein großes Vertrauen. Dieses könnte genutzt werden, um Know-how im Bereich des Netzwerkmanagements und des Technologietransfers aufzubauen und zu vermarkten. Damit können die landwirtschaftlichen Betriebe zum Beispiel bei der Anwendung neuer Vermarktungswege unterstützt werden. Und auch beim Rückgang der starken Rolle als Händler, kann die logistische Infrastruktur gestärkt und mit neuen Technologie modernisiert werden. Gerade der Agrarhandel bietet Unmengen an Anwendungsfeldern für das sogenannte Internet of Things (IoT), für Blockchain-Technologie oder für völlig neue Geschäftsmodelle. Damit würde sich die Rolle vom Händler zum Informations- und Beratungsdienstleister wandeln. Der Kundennutzen, den der Agrarhandel einem Landwirt bietet sind nicht Saatgut, Dünge- und Pflanzenschutzmittel, sondern die zuverlässige  Versorgung einer Produktionseinheit mit optimalen Betriebsmitteln, die zum benötigten Zeitpunkt in benötigter Menge zu einem akzeptablen Preis verfügbar sind. Auf den ersten Blick liegt der Unterschied nicht offensichtlich auf der Hand. Genauer betrachtet unterscheidet sich die Darstellung aber dahingehend, dass die erste Variante Handelsprodukte in der Vordergrund stellt, die zweite Darstellung unabhängig von konkreten Produkten ist. Und damit lassen sich neue Geschäftsmodelle denken, denen das Management der nötigen Ressourcen und Informationen zugrunde liegt und nicht mehr der Handel mit den Produkten.

Eine weitere Rolle der Agrarhändler ist die Vermarktung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Dabei poolen die Agrarhändler z.B. die Mengen einzelner Landwirte und führen sie dem Handel (regional und Weltmarkt) bzw. der Nahrungsmittelindustrie zu. Derzeit ist diese Rolle, abgesehen von einem kleinen Anteil der landwirtschaftlichen Direktvermarktung, unbestritten. Aktuelle Entwicklungen zeigen aber, dass diese Rolle neuen Technologien zum Opfer fallen könnte und es höchst wahrscheinlich auch wird, da der Handel in naher Zukunft ohne Mittelsmann direkt zwischen Erzeuger und Verbraucher oder Verarbeiter stattfinden wird – und zwar auch im industriellen Maßstab. Allerdings braucht man auch weiterhin Know-how für Qualitätssicherung und Logistik. Auch hier sind neue Geschäfstmodelle denkbar.

Der Agrarhandel gehört zu den Wirtschaftsbereichen, die durch technologischen Fortschritt in den nächsten Jahren enorm verändert werden. Ob diese Veränderung durch die Agrarhändler selbst getrieben wird oder von außen kommt, wird sich zeigen. Sicher ist aber, dass die heutigen Agrarhändler nur dann weiter existieren werden, wenn sie den Wandel von sich aus treiben. Dabei wird sich ihre Rolle vollständig ändern. Und auch, wenn die Geschäfte und Strukturen derzeit scheinbar stabil sind, ist diese Sicherheit ein Trugschluss. Und wie schnell das gehen kann, wird am Beispiel der Einführung des Smartphones deutlich. Vor 11 Jahren wurde mit der Markteinführung des iPhones von Apple das Smartphone als solches in der Breite eingeführt. Heute ist eine Welt ohne Smartphone praktisch nicht mehr vorstellbar. Es kann also sehr schnell gehen.

Und damit die heutigen Agrarhändler nicht von der Technologieentwicklung eingeholt werden, müssen sie sich zunächst gegenüber anderen Branchen öffnen und aufhören, in althergebrachten Strukturen und Prozessen zu denken. Ja, der Weizen wächst vorerst weiter auf dem Acker und nicht in der Cloud. Das wurde aber weder infrage gestellt noch liefert es eine neue Erkenntnis. Viel wichtiger ist die Frage, wie der Weizen in Zukunft auf den Acker kommt, unter welchen Randbedingungen er dort wächst und wer ihn zukünftig den unterschiedlichen Märkten zugänglich macht.